Ein neues Jahr beginnt: Noch keine der 365 Tage ist geschrieben und gelebt. Doch alle wissen heute schon, dass es auch im neuen Jahr Tage geben wird, in denen ein Mensch sich verlassen fühlt: ausgestoßen, weggeschickt, allein, einsam. So ging es auch jener Frau aus einem klassischen Dreiecksverhältnis: ein Mann, zwei Frauen. Jede der Frauen hat einen Sohn geboren – und damit zog die Eifersucht ein. So gab es in dem Dreieck plötzlich keinen Platz mehr für eine der Frauen und für ihren Sohn: Sie wurde in die Wüste geschickt.

 

Jahreslosung 2023

 

Da saß sie nun: ausgestoßen, weggeschickt, allein, einsam. Mitten in der Wüste hat sie eine Quelle gefunden. So musste Sie zusammen mit ihrem Sohn wenigstens nicht verdursten. An dieser Quelle, als sie ermattet vom weiten Weg eindämmerte, hörte sie eine Stimme. Diese Stimme schickte sie dorthin zurück, von wo sie weggeschickt wurde. Diese Stimme versprach ihr, sie zu beschützen. Sie wusste, diese Stimme ist Gott: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Was für eine umstürzlerische Erfahrung: Hagar – so hieß diese Frau – erkannte an der Quelle mitten in der Wüste, dass sie in all ihrer Einsamkeit nicht allein war. Da war dieser Gott. Da war einer, der sie sieht.

Gesehen werden, nicht übersehen, dass wünsche ich mir und allen Menschen in all den 365 Tagen, die noch nicht gelebt und geschrieben sind. Ich wünsche mir, dass Gott mich sieht. Ich wünsche jedem Menschen, dass Gott diesen Menschen sieht. Einen Menschen zu sehen ist mehr als wahrzunehmen, dass da jemand ist. Einen Menschen zu sehen, heißt zu erkennen, was dieser Mensch braucht, was diesem Mensch fehlt, was diesem Mensch hilft. Wer dies erkennt, wird entsprechend handeln. So entsteht Gerechtigkeit zwischen den Menschen, wenn wahrgenommen wird, was dem oder der anderen wirklich fehlt. Nicht, was sie oder er haben will, sondern was der oder dem anderen zum Leben fehlt. Wenn Menschen sich dies gegenseitig geben, weil sie diesen Gott erleben, der sie ansieht, dann entsteht Gerechtigkeit und aus dieser Gerechtigkeit Frieden. Das wünsche ich allen: Gott und Menschen, die Sie und Euch - eine jede und einen jeden - sehen in den kommenden 365 Tagen.

Text: Pastor Christof Vetter für "Hallo Sonntag" - Bild: Andriyko Podilnyk, Dank dafür.